Zunächst schien alles eine Kleinigkeit zu sein.
Im Sommer waren Gerüche in einem kleinen Vorortviertel, in dem jeder jeden kannte, nichts Ungewöhnliches – mal briet jemand Fisch, mal brannten Blätter, mal lief die Kanalisation aus. Aber Mrs. Hudson, Emmas Nachbarin, war in solchen Dingen besonders empfindlich.
Sie rief früh am Morgen an, wie immer ohne „Guten Morgen” zu sagen.
„Emma, Ihr Keller verfault! Ich rieche diesen schrecklichen Geruch sogar durch den Zaun hindurch!”
Emma war noch nicht ganz wach, als sie einen Blick aus dem Fenster warf. Das Haus war alt, sie hatte es von ihren Eltern geerbt, und der Keller – dunkel, feucht, mit einer Holztreppe und Steinwänden – wurde selten genutzt. Dort lagerten Gläser mit Eingemachtem, alte Werkzeuge und vergessene Kisten.
„Wahrscheinlich die Kanalisation“, murmelte sie ins Telefon. „Ich werde es heute Abend überprüfen.“
Aber am Abend wurde der Geruch stärker. Er war seltsam – nicht ganz faulig, eher … alt. Als hätte man einen lange verschlossenen Raum geöffnet, in dem jahrzehntelang keine Luft gewesen war. Emma beschloss, hinunterzugehen.
Sie schaltete die Taschenlampe ein und öffnete vorsichtig die schwere Holztür zum Keller. Feuchtigkeit und Kälte schlugen ihr schon auf der ersten Stufe entgegen. Der Geruch wurde intensiver. Die Taschenlampe beleuchtete staubige Kisten, alte Möbel und ein Regal mit Werkzeugen.
Aber etwas stimmte nicht. In der hinteren Ecke, wo die Wand einst feucht geworden war, war nun ein Riss zu sehen – dünn, aber lang. Aus ihm drang keine Luft, sondern eher … ein Luftzug von innen.
Emma beugte sich näher heran.
Der Riss verlief entlang der Mauerwerkslinie, und als sie ihn mit der Hand berührte, fiel ein Stück Putz ab.
Dahinter kam etwas wie ein Spalt zum Vorschein – und die Luft dort war eiskalt.
Sie rief ihren Nachbarn herbei – Herrn Karl, einen älteren Ingenieur, der immer bei Reparaturen half.
„Wenn es sich um die Kanalisation handelt“, sagte er und hielt eine Taschenlampe hoch, „werde ich die Rohre verschließen. Aber der Geruch ist seltsam. Nicht technisch, sondern … historisch.“
Gemeinsam schoben sie einige Kisten beiseite und entfernten vorsichtig die alte Zementschicht. Dahinter kam eine kleine, mit Ziegeln zugemauerte Tür zum Vorschein.
„Sieht so aus, als hätte es hier mal einen Durchgang gegeben“, sagte Karl nachdenklich. „Vielleicht ein alter Weinkeller?“
„Aber meine Eltern haben nie davon erzählt …“
Mit Mühe zogen sie ein paar Ziegelsteine heraus. Von innen wehte Kälte und Dunkelheit herein. Die Taschenlampe beleuchtete einen schmalen Tunnel, der in die Tiefe führte.
Emma, die vor Neugier und Angst zitterte, nahm die Laterne.
„Lass uns nachsehen.“
„Bist du verrückt? Was, wenn dort Gas oder Ratten sind?“
„Dann bin ich zuerst.“
Der Gang war kurz. Nach drei Metern kamen sie in einen kleinen Raum, der wie ein Versteck aussah. Die Wände waren mit Ziegeln ausgemauert, und in der Mitte stand eine alte Truhe. Sie war mit Staub und Spinnweben bedeckt, aber das Schloss war verrostet.
„Mein Gott“, flüsterte Emma. „Wie alt ist er?“
„Dem Mauerwerk nach zu urteilen, über hundert“, antwortete Karl. „Das ist eindeutig noch vorrevolutionär.“
Die Truhe ließ sich schwer öffnen. Die Scharniere quietschten, und die Luft füllte sich mit einer Mischung aus Staub und etwas Süßlichem, Verfaultem. Darin lagen alte Zeitungen, Stoffrollen und eine kleine Holzkiste.
Karl schlug eine der Zeitungen auf.
„1914 … Beginn der Mobilmachung.“ Das ist doch der Erste Weltkrieg!
Emma öffnete unterdessen die Schublade.
Darin befanden sich ein Medaillon, mehrere vergilbte Briefe, die mit einem Band zusammengebunden waren, und … eine kleine Puppe mit einem Porzellangesicht.
Sie hob sie hoch und zuckte zusammen – die Puppe war kalt, als käme sie aus dem Kühlschrank.
Auf der Rückseite des Medaillons war eine Gravur: „E.A.H.“.
Karl faltete den Brief auf und las leise:
„Wenn jemand dies findet, bitte ich Sie, nicht zu urteilen. Ich konnte mich nicht anders entscheiden. Der Keller ist alles, was übrig geblieben ist. Sie muss hier sein, wo ich sie zurückgelassen habe …“
Emma spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
„Sie“ … wer?
Karl schwieg. Er senkte den Blick auf die Puppe.
„Vielleicht ist es kein Spielzeug.“
Sie begannen, den Boden zu untersuchen. Unter einer Schicht Erde fanden sie einen Bretterboden. Als Karl mit einer Brechstange eine Planke aufhob, kam darunter ein alter Stoffballen zum Vorschein.
Emma schrie auf.
Im Inneren befanden sich kleine Knochen.
Es wurde still, die Luft schien zu erstarren. Sogar die Taschenlampe flackerte.
Karl legte die Diele vorsichtig zurück und atmete aus.
„Das ist … alt. Sehr alt. Vielleicht sogar aus der Zeit vor dem Krieg.“
Als die Polizei und Archäologen gerufen wurden, stellten sie fest: Die Überreste gehörten zu einem Kind, das vor über hundert Jahren begraben worden war. Allem Anschein nach stand das Haus an der Stelle eines ehemaligen Kinderheims, das nach einem Brand im Jahr 1915 aus den Stadtarchiven verschwunden war.
Die Briefe aus der Truhe gehörten der Krankenschwester Eleanor Hartman, die versucht hatte, Kinder aus dem Heim zu retten, es aber nicht geschafft hatte. Eines der Kinder war gestorben, und sie hatte die Leiche versteckt, damit es nicht zusammen mit den anderen in ein Massengrab gebracht wurde.
Eine Woche später stellte Emma eine kleine Kerze in den Keller und ließ die Puppe an ihrem Platz stehen.
Der Geruch verschwand.
Aber jede Nacht, wenn sie an der Kellertür vorbeiging, schien es ihr, als würde sie leises Kindergeflüster von dort hören…
„Danke, Mama…“

