Es geschah mitten im Winter, in den Bergen unweit von Innsbruck. Nacht, Schneesturm, der Schnee fiel wie eine weiße Wand. Die Straßen waren verweht, Straßenlaternen flimmerten im Wind, und alles umher wirkte wie eine lautlose, weiße Leere.
Anna Weiß, zweiunddreißig Jahre alt und im achten Monat schwanger, saß am Steuer ihres alten Fords und klammerte sich mit beiden Händen ans Lenkrad. Ihr Mann, Thomas, war auf Geschäftsreise in der Stadt geblieben, und als die Wehen früher als erwartet einsetzten, entschied Anna, allein ins Krankenhaus zu fahren.
Sie hatte bereits die Hälfte des Weges geschafft, als der Schneefall so stark wurde, dass sie nicht einmal mehr die Motorhaube sehen konnte. Die Reifen rutschten, und die Scheinwerfer erfassten nur wirbelnde Schneefahnen im Dunkeln. Annas Herz schlug schneller – nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Angst. Kein Handyempfang, das Radio stumm, und um sie herum nur das Heulen des Windes und das weiße Chaos.
Und plötzlich…
Direkt vor dem Auto, wie aus dem Nichts, stand ein riesiger Hirsch.
Er stand mitten auf der Straße, im tobenden Schneesturm, mit mächtigen, von Reif überzogenen Geweihen und sah sie unbeweglich an. Seine Augen leuchteten im Licht der Scheinwerfer wie zwei bernsteinfarbene Laternen. Anna trat auf die Bremse – die Reifen rutschten, das Auto schleuderte und glitt in den Straßengraben.
Der Aufprall war weich – ein Schneehaufen. Doch der Motor ging aus.
Stille. Nur der Wind und ihr rasendes Herz.
Anna versuchte zu starten – vergeblich. Und in diesem Moment durchzuckte eine neue, schmerzhafte Wehe ihren Körper.
„Nein… nein… bitte nicht jetzt…“ flüsterte sie und hielt sich den Bauch.
Da – wieder Bewegung am Fenster.
Der Hirsch war näher gekommen. Sein Atem war im kalten Luftzug sichtbar, wie kleine Dampfwolken. Er stupste mit der Schnauze gegen die Scheibe, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch lebte.
Anna schloss die Augen – sie glaubte, das Bewusstsein zu verlieren.
Doch dann hörte sie… einen Laut.
In der Ferne – das Bellen eines Hundes.
Sie öffnete die Tür und stieg mühsam aus. Der Schnee peitschte ihr ins Gesicht. Der Wind heulte.
Der Hirsch wich ein paar Schritte zurück, sah sie an – und drehte sich langsam um, begann die Straße entlangzugehen.
Ohne zu wissen warum, folgte Anna ihm.
Sie ging, hielt ihren Bauch, schwankte, fiel in den Schnee, stand wieder auf – und ging weiter.
Der Hirsch ging ruhig, sicher, und sah sich immer wieder um, als würde er warten.
So gingen sie etwa zehn Minuten, bis in der Ferne ein schwaches Licht auftauchte.
Eine Laterne. Ein Haus.
Es war eine alte Bergstation, im Winter eigentlich geschlossen. Doch in dieser Nacht übernachtete dort ein alleinstehender Rentner und ehemaliger Förster – Josef Kramer. Er hörte das Bellen seines Hundes, trat mit einer Laterne hinaus und traute seinen Augen kaum, als er eine hochschwangere Frau sah, die einem riesigen Hirsch folgte.
Er lief zu ihr, half ihr ins Haus, entzündete den Ofen und rief über Funk die Bergrettung.
Eine Stunde später brachte Anna ihr Kind zur Welt. Und Josef war es, der das Mädchen entgegennahm.
Als der Sturm am Morgen nachließ und die Retter eintrafen, sahen sie als Erstes die Spuren des Hirsches – direkt bis zur Haustür… und dann im Schnee verschwindend.
Später erzählte Anna, sie habe ihn ganz deutlich gesehen – und während sie ihm folgte, habe sie Wärme und Sicherheit verspürt.
Josef sagte nur:
„Vor etwa zehn Jahren lebte hier oben ein riesiger Hirsch. Wir nannten ihn den Hüter. Man hat ihn lange nicht mehr gesehen… Aber vielleicht ist er in dieser Nacht zurückgekehrt.“
Das Mädchen wurde Elisa genannt – nach dem Wort Elch, „Hirsch“ im Deutschen.
Und jedes Jahr, wenn der Winter wiederkommt und der Schnee die Berge bedeckt, fahren Anna und ihre Tochter zu dieser Station.
Elisa blickt dann immer in den Wald und flüstert:
„Mama… siehst du ihn?“
Und niemand wundert sich, wenn in der Ferne, am Rand von Schnee und Tannen, eine große Silhouette mit frostigen Geweihen kurz sichtbar wird…

