Anna hatte diesem Tag mit Aufregung und einer Spur Angst entgegengefiebert.
Der sechste Schwangerschaftsmonat – eine besondere Zeit: Der Bauch ist rund, das Baby bewegt sich, das Leben ist erfüllt von Erwartung und zärtlicher Spannung.
Sie kam früher zur Klinik, um einfach im Flur zu sitzen, wo es nach Medikamenten und Kaffee roch. Ihr Mann konnte nicht mitkommen – wieder einmal eine Dienstreise. Doch sie war ihm nicht böse: „Hauptsache, mit dem Baby ist alles gut,“ sagte sie sich immer wieder.
Als der Arzt – ein großer Mann mit grauen Schläfen und sanfter Stimme – sie in das Behandlungszimmer bat, lächelte sie und legte sich auf die Liege.
Warmer Gel, das vertraute Summen des Geräts, graue Schatten auf dem Bildschirm.
„So… hier ist der Arm, hier das Köpfchen…“, murmelte der Arzt und fuhr mit dem Schallkopf über ihren Bauch.
Anna blickte wie verzaubert auf den Monitor.
Plötzlich veränderte sich etwas.
Der Arzt erstarrte, runzelte die Stirn, legte den Schallkopf beiseite und setzte ihn erneut an.
Er hörte, schaute wieder hin, und dann sagte er leise:
„Moment… hören Sie das?“
Anna hielt den Atem an.
Aus dem Lautsprecher kam der vertraute Rhythmus – tuk-tuk-tuk-tuk – das Herz ihres Babys.
Doch dann, kaum wahrnehmbar, ein zweiter Schlag.
Schwächer. Langsamer.
Tuk… tuk…
Zwei Herzen.
„Habe ich etwa Zwillinge?“ flüsterte Anna.
Der Arzt schüttelte den Kopf.
„Nein. Auf dem Bild ist nur ein Kind. Nur eins. Aber… der Ton ist da. Ein zweiter Schlag, als wäre jemand direkt daneben.“
Er schaltete das Gerät aus, wieder ein, wechselte den Schallkopf – der zweite Ton blieb.
Er runzelte die Stirn.
„Ich hole meine Kollegin.“
Kurz darauf kam eine ältere Ärztin herein, mit ernstem Blick und weißem Kittel.
Sie hörte zu, sah auf den Bildschirm – und bekreuzigte sich plötzlich.
Anna spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.
„Was bedeutet das? Ist es gefährlich?“ flüsterte sie.
„Nein,“ sagte die Frau langsam, „nur… sehr selten. So etwas passiert manchmal, wenn… jemand anderes ganz nah ist.“
Anna verstand nicht.
Der Arzt beeilte sich, sie zu beruhigen:
„Alles in Ordnung, das Baby entwickelt sich normal. Vielleicht eine technische Störung. Oder ein Echo-Signal.“
Er lächelte, doch sein Blick blieb besorgt.
Zu Hause konnte Anna lange nicht einschlafen.
Immer wieder hörte sie diesen zweiten Schlag in ihrem Kopf.
Nachts wachte sie auf – sie spürte eine sanfte Bewegung im Bauch, als würde etwas sie von innen berühren.
Sie legte die Hand auf den Bauch – und fühlte zwei Herzschläge. Nicht im gleichen Rhythmus.
Am nächsten Morgen rief sie ihre Mutter an:
„Mama, glaubst du, dass ein ungeborenes Kind… einen Schutzengel-Zwilling haben kann?“
Ihre Mutter schwieg lange, dann sagte sie leise:
„Du hattest einmal einen Bruder. Einen Zwilling. Der zweite Embryo hat in der Frühschwangerschaft nicht überlebt. Du warst zu klein, um es zu wissen.“
Anna erstarrte.
„Was?“
„Die Ärzte sagten damals, er sei resorbiert worden. Aber vielleicht… ist seine Seele noch bei dir.“
Beim nächsten Ultraschall war der zweite Herzschlag wieder da – auf einem neuen Gerät, mit einem anderen Arzt.
Und wieder – nur ein Baby auf dem Monitor. Lächelnd, als hätte es gewunken.
Doch daneben, fast außerhalb des Bildes, das schwache tuk… tuk… tuk…
Der Arzt schwieg eine Weile, dann fragte er:
„Haben Sie jemanden verloren?“
Anna nickte.
„Dann passt jemand gut auf Ihr Kind auf.“
Von da an verlief die Schwangerschaft ruhig.
Anna fühlte sich nie allein. Wenn sie Angst bekam, beruhigte sich ihr Herz – und der zweite Rhythmus, kaum hörbar, begleitete sie wie eine sanfte Wiege.
Die Geburt war leicht.
Ein gesunder Junge mit klaren blauen Augen und weichem Haar kam zur Welt.
Als die Hebamme ihn anhob, weinte Anna – vor Glück und vor einem seltsamen Gefühl, als wäre es plötzlich zwei Grad wärmer im Raum.
Doch dann runzelte der Arzt die Stirn:
„Merkwürdig…“, sagte er. „Das Baby hat ein Muttermal auf der Brust – in Form eines Herzens.“
Anna lächelte durch Tränen.
„Er ist nicht allein,“ flüsterte sie. „Sein Bruder ist bei ihm. Nur nicht sichtbar.
Seitdem, wenn sie ihren Sohn abends schlafen legt, legt sie die Hand auf seine Brust und flüstert:
„Danke, dass du ihn beschützt.“
Und in der Stille des Zimmers, wenn das kleine Herz schlägt, scheint man manchmal ein Zweites zu hören – leiser, langsamer, aber lebendig.
Tuk… tuk…

