Der Morgen war ganz gewöhnlich. Grauer Himmel, leichter Nebel, der Duft von frischem Brot aus der Bäckerei an der Ecke. Marina trug eine Einkaufstasche voller Lebensmittel, eilte nach Hause – ihr Sohn musste gleich zur Schule, und ihr Mann war schon auf dem Weg zur Arbeit. Alles war wie immer. Bis zu dem Moment, als sie sich dem Bahnübergang näherte.
Dort, direkt an den Gleisen, stand ein Mädchen. Klein. Barfuß.
An ihr – nur ein dünnes Kleidchen, zerzauste Haare, die Arme eng an die Brust gedrückt. Und sie blickte – genau auf die Schienen.
Marina blieb stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.
— „Mädchen, was machst du hier ganz allein?“ rief sie, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Das Kind antwortete nicht. Nur der Kopf drehte sich leicht. Keine Tränen, keine Angst im Gesicht. Nur eine seltsame, stille Kälte in den Augen.
In der Ferne ertönte schon das Signal des Zuges – noch etwa fünf Minuten bis zum Bahnübergang. Marina ließ die Tüten fallen und rannte los.
— „Süße, das darfst du nicht! Geh da weg!“ rief sie fast verzweifelt.
Doch das Mädchen machte einen Schritt nach vorne. Direkt zu den Gleisen.
Marina packte sie auf den Arm, zog sie hinter die Schranke. Ihr Herz hämmerte. Sie wickelte das Kind in ihren Schal.
— „Wo kommst du her? Wo ist deine Mama?“
— „Mama…“, flüsterte das Mädchen. „Dort.“
Sie zeigte auf ein kleines Haus am alten Bahnposten. Holz, abgeblätterte Farbe, ein zerbrochenes Fenster.
Zitternd führte Marina sie dorthin. Die Tür stand offen. Drinnen – Kälte, ein leerer Ofen, ein alter Stuhl, Kinderzeichnungen an der Wand.
Und Stille.
— „Hallo? Ist jemand da?“ rief Marina leise.
Keine Antwort. Nur ein Luftzug bewegte den Vorhang. Auf dem Boden lag eine Frauenjacke und ein Handy mit gesprungenem Display. Das Mädchen ging hin, kniete sich daneben – als hätte sie es erwartet.
— „Sie ist in der Nacht gegangen“, sagte sie leise. „Sie hat gesagt, sie kommt gleich zurück.“
Ein Kloß stieg Marina in den Hals. Offenbar hatte die Mutter das Kind über Nacht allein gelassen – ohne Licht, ohne Wärme. Aber warum war das Mädchen dann zum Bahnübergang gegangen?
Da zog sie aus der Tasche einen kleinen, zerknitterten Zettel. Darauf, mit kindlicher Schrift, stand:
„Wenn ich nicht zurückkomme, geh zu den Gleisen – dort finden dich gute Menschen.“
Marina schlug eine Hand vor den Mund. Sie wusste nicht, wer den Zettel geschrieben hatte – die Mutter oder das Kind selbst. Aber eines war klar: Dieses Mädchen konnte sie nicht allein lassen.
Später, im Krankenwagen, hielt das Mädchen Marinas Hand fest.
— „Bist du jetzt auch Mama?“ fragte sie leise.
— „Ja, mein Schatz“, antwortete Marina. „Jetzt bin ich deine Mama.“
Als die Polizei die Frau fand, war es zu spät. Sie war in jener Nacht, auf dem Weg Hilfe zu holen, gestorben – eingeschneit, erfroren, nicht weit vom Bahnübergang entfernt.
Erst da wurde allen klar, warum das kleine Mädchen an jenem Morgen dort stand. Sie wartete. Sie glaubte, dass Mama ihr Versprechen hält – und wollte die Erste sein, die sie begrüßt.
Marina konnte noch lange nicht an diesem Ort vorbeifahren. Jedes Mal, wenn ein Zug hupte, schien es ihr, als stünde dort im Nebel wieder diese kleine Gestalt – barfuß, zart und unendlich treu.

