Später Abend. Nebel lag über dem Fluss, nur wenige Laternen erhellten die Brücke. Anna war auf dem Heimweg von der Arbeit, als sie die Silhouette einer Frau bemerkte. Die Frau stand ganz am Rand des Geländers, ihr Mantel wehte im Wind, ihre Hände zitterten.
Anna blieb stehen. Instinktiv wusste sie – jede Sekunde zählt.
„Hey!“ rief sie und ging langsam näher. „Bitte, tun Sie es nicht!“
Die Frau drehte sich nicht um. Sie flüsterte nur: „Es kümmert sich doch niemand um mich…“
Anna ging vorsichtig weiter, ohne hastige Bewegungen. „Doch,“ sagte sie leise. „Mir ist es nicht egal.“
Sie streckte ihre Hand aus – und in diesem Moment begann die Frau zu weinen. Anna packte sie rechtzeitig und hielt sie fest, bis andere Passanten zur Hilfe kamen.
Einige Tage vergingen. Anna musste immer wieder an diese Begegnung denken. Die Frau lag im Krankenhaus, man versprach ihr Hilfe. Anna beschloss, sie zu besuchen – einfach, weil sie ihre Augen nicht vergessen konnte.
Als sie das Zimmer betrat, hob die Frau den Blick… und erbleichte. „Sie…“ flüsterte sie. „Sie waren damals an der Brücke?“
Anna nickte. Die Frau bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und begann zu weinen.
„Ich muss Ihnen etwas erzählen… Vor einigen Jahren, es regnete… Ich arbeitete in einem Schullager. Ein Junge lief hinter einem Ball auf die Straße… Ich schaffte es, ihn im letzten Moment zu packen – das Auto fuhr nur Zentimeter vorbei. Er hieß… Oliver, glaube ich.“
Anna erstarrte. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie kaum atmen konnte. „Mein Sohn,“ flüsterte sie. „Mein Sohn heißt Oliver.“
Beide schwiegen. Nur der Regen prasselte gegen das Fenster. In diesem Moment verstand Anna: An jenem Abend auf der Brücke hatte das Schicksal nur eine Schuld beglichen. Sie hatte das Leben derjenigen gerettet, die einst das Wertvollste in ihrem Leben gerettet hatte.
Manchmal kehrt das Gute zurück – genau dann, wenn wir es am wenigsten erwarten. Und auch wenn die Welt oft gleichgültig wirkt – sie vergisst nicht diejenigen, die einst jemand anderen gerettet haben.
