Der Regen hörte bereits seit drei Tagen nicht auf. Der Himmel hing tief über dem alten Haus, in dem Oliver, ein lebhafter fünfjähriger Junge, und seine Mutter Sofia lebten. Der Donner rollte irgendwo in der Ferne, aber Oliver hatte keine Angst – im Gegenteil, er liebte es, den Regentropfen zuzusehen, wie sie über die Fensterscheibe liefen und kleine „Flüsse“ bildeten.
Auf dem Fensterbrett lag die Katze Luna – groß, flauschig, weiß-grau, mit einem wachsamen Blick, als würde sie mehr verstehen, als einem Tier zusteht. Sie war immer bei dem Jungen, schlief nachts an seinen Füßen und stand mit ihm auf.
An diesem Abend kochte Sofia in der Küche, als sie plötzlich ein seltsames Geräusch hörte – ein tiefes, langgezogenes Miauen, voller Unruhe. Sie schaute ins Zimmer und sah Luna auf dem Fensterbrett neben Oliver stehen, den Blick nach oben, hinaus ins Dunkel gerichtet.
„Alles in Ordnung, Luna?“, fragte sie gedankenverloren.
Doch die Katze spannte sich an. Ihre Pupillen weiteten sich, das Fell stellte sich auf. Plötzlich sprang sie vom Fensterbrett, krallte sich in Olivers Ärmel und zerrte ihn vom Fenster weg.
„Luna, hör auf!“, lachte Oliver und versuchte sich loszureißen. Aber die Katze miaute immer lauter, stieß ihn mit den Pfoten, als wollte sie ihn vertreiben.
Und dann geschah es.
Ein greller Lichtblitz erfüllte das Zimmer. Der Donner war so laut, dass die Wände bebten. Die Fensterscheibe riss, Funken sprühten über das Fensterbrett. Ein Blitz schlug genau in den Fensterrahmen ein und hinterließ eine schwarze, rauchende Spur.
Sofia ließ den Löffel fallen und rannte ins Zimmer. Oliver stand wenige Schritte vom Fenster entfernt – verängstigt, aber unverletzt. Luna stand dicht bei ihm, Ohren angelegt, die Augen weit geöffnet, der Schwanz zitterte.
„Mein Gott…“, flüsterte Sofia und umarmte ihren Sohn. „Wenn sie nicht gewesen wäre…“
Luna miaute leise, legte sich zu Olivers Füßen und blickte weiter zum Fenster.
Später erklärte der Elektriker, dass die alte Metallleiste unter dem Rahmen den Blitz angezogen hatte.
„Noch eine Sekunde länger – und er hätte das Kind getroffen“, sagte er.
Seitdem war Luna mehr als nur eine Katze. Sie spürte Gewitter, bevor sie kamen: verließ das Zimmer, wurde unruhig, als ob sie warnte. Manchmal dachte Sofia, Luna höre Dinge, die Menschen nicht hören – als sei sie mit etwas Unsichtbarem verbunden.
Der schwarze Blitzeinschlag blieb als dünne Narbe am Rahmen zurück. Und jedes Mal, wenn Sofia ihn sah, erinnerte sie sich an Lunas bernsteinfarbene Augen im Dunkeln.
Wenn Nachbarn fragten, warum Luna immer am Fenster sitzt, bevor es regnet, antwortete Sofia mit einem Lächeln:
„Sie wartet auf den Donner. Das ist ihre Art, sicherzugehen, dass er nicht jemanden mitnimmt.“
Manchmal tragen die stillsten Wesen die Kraft in sich, einen Sturm aufzuhalten.

