Die Nacht war kalt und still.
Das alte Industrieviertel von Hamburg war längst verlassen: Fabriken geschlossen, Menschen weggezogen, geblieben waren nur rostige Container, Ratten und solche wie er — Daniel Müller, obdachlos, früher Mechaniker, der nach einer Krankheit und der Scheidung alles verloren hatte.
Er streifte über den Hinterhof eines Supermarkts, mit einer alten Taschenlampe in der Hand. Die Luft roch nach Verwesung und Regen.
— Wenigstens ein Stück Brot… murmelte er und öffnete die nächste Mülltonne.
Aber diesmal hörte er statt des vertrauten Raschelns von Müllsäcken… ein leises, kaum hörbares Wimmern.
Daniel erstarrte. Zuerst dachte er, es sei eine Katze. Doch das Geräusch kam erneut — klagend, menschlich.
Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein — und sein Herz blieb stehen.
Zwischen Plastiksäcken lag ein kleines Bündel, eingewickelt in eine graue Decke.
Vorsichtig öffnete er es — und sah ein Baby. Winzig klein, mit geschlossenen Augen und bleichem Gesicht.
— Mein Gott… flüsterte er. — Wer hat dich hier liegengelassen?
Das Kind lebte. Es atmete — schwach, aber gleichmäßig. Es sah aus wie ein ganz normales Neugeborenes. Doch Daniel bemerkte plötzlich: Seine Haut war viel zu kalt, als hätte es hier stundenlang gelegen.
Und noch etwas — an seinem Handgelenk trug es ein Lederarmband, in das ein Name eingraviert war:
„Emil K.“
Daniel wusste nicht, was er tun sollte. Die Polizei rufen? Er hatte nicht einmal ein Telefon.
Er zog seinen alten Mantel aus, wickelte das Kind hinein und ging zu dem Ort, an dem er übernachtete — ein verlassener Hangar am Stadtrand.
Dort, unter dem schwachen Licht einer Lampe, machte er ein kleines Feuer aus Holzresten und begann, das Baby zu wärmen.
Nach einer Weile bewegte sich das Kind, öffnete die Augen… und Daniel wich erschrocken zurück.
Die Augen des Babys waren ungewöhnlich — riesig, fast silbern, sie spiegelten die Flammen wie Spiegel wider.
Doch in ihnen war keine Angst. Nur Stille. Aufmerksamkeit. Als würde das Kind… durch ihn hindurchsehen.
— Es ist gut… sagte Daniel mit zitternder Stimme. — Ich helfe dir.
Er nahm eine Wasserflasche, befeuchtete ein Stück Stoff und wischte vorsichtig das Gesicht des Babys ab. Da bemerkte er an dessen Hals ein winziges Medaillon — aus Metall, eiskalt. Darin lag ein kleiner, gefalteter Zettel.
Er öffnete ihn.
„Wenn du das liest — bedeutet es, dass er dich ausgewählt hat.“
Ein kalter Schauer lief Daniel über den Rücken.
Gegen Morgen schlief das Baby ein. Daniel schloss die ganze Nacht kein Auge — er lauschte nur seinem Atem.
Doch je länger er das Kind betrachtete, desto mehr hatte er das Gefühl, dass es sich veränderte. Die Haut wurde wärmer, die Wangen rosa. Als würde das Leben in ihm erwachen — und mit jeder Minute ein Teil davon von Daniel auf das Kind übergehen.
Er fühlte eine merkwürdige Schwäche — nicht vor Müdigkeit, sondern, als würde dieses kleine Wesen seine Kräfte aus ihm ziehen.
Bei Tagesanbruch hörte Daniel Schritte am Eingang zum Hangar.
In der Tür stand eine Frau in einem langen Mantel — groß, ernst, mit einem Tuch über dem Kopf. In der Hand hielt sie ein altes Foto.
— Haben Sie ihn gefunden? fragte sie und sah Daniel direkt in die Augen.
— Wer sind Sie? fragte er misstrauisch.
— Ich bin die, die ihn seit drei Jahren sucht. Er heißt Emil. Aber er ist… nicht ganz ein Kind.
Sie trat näher, und das Kind, erwachend, streckte ihr die Hand entgegen.
Daniel spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog.
— Was meinen Sie? Wer ist er?
Die Frau lächelte traurig:
— Er ist das, was die Menschen früher ein „Geschenk“ nannten. Er wählt denjenigen, der bereit ist, alles zu geben — für einen anderen.
Das Baby atmete leise, und plötzlich wurde das Licht der Lampe heller.
Daniel blickte auf seine Hände — sie wirkten, als hätte das Licht sie verbrannt.
— Dann wird er jetzt leben, sagte die Frau. — Dank dir.
Daniel konnte nichts erwidern. Er sah nur, wie sie mit dem Kind im Morgennebel verschwand und hörte, wie ihre Schritte in der Stille verklangen.
Später fand man im Hangar nur seinen alten Mantel und das winzige Armband mit der Aufschrift „Emil K.“
Niemand verstand, wer dieser Obdachlose war — und warum seit diesem Tag niemand mehr dort übernachtet, obwohl es im Inneren immer warm ist…

