Als Emma und Michael vor dem Altar standen, war sie sich sicher, dass ihnen ein Leben voller Liebe, Reisen und stiller Glückseligkeit bevorstand. Die Hochzeit war laut und fröhlich – mit Freudentränen, Toasts und vielen Gästen. Die ganze Zeit über träumte Emma nur von einer Sache: von den Flitterwochen, in denen sie endlich zu zweit sein würden.
Michael lächelte geheimnisvoll und versprach ihr eine Überraschung. Emma stellte sich weiße Strände, Abendessen bei Kerzenschein und Spaziergänge unter dem Sternenhimmel vor. Aber die eigentliche Überraschung erwartete sie bereits am Flughafen.
Neben Michael stand seine Mutter Mary, fröhlich, energiegeladen, in einem neuen Trainingsanzug und mit einem Koffer, der kaum auf den Gepäckwagen passte.
„So, jetzt sind wir alle beisammen!“, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Ich fliege mit euch, meine Lieben! Ich war schon lange nicht mehr am Meer.“
Emma erstarrte und traute ihren Ohren nicht.
„Mama“, sagte Michael, als wolle er sich rechtfertigen, „ich dachte, du brauchst auch eine Auszeit. Also fliegen wir alle zusammen.“
Emma blieb die Sprache verschlagen. Statt der lang ersehnten romantischen Reise erwartete sie nun ein Familienurlaub zu dritt.
Die ersten Tage glichen einer Komödie. Am Strand stellte Mary immer ihre Liege zwischen die beiden, cremte ihren Sohn sorgfältig mit Sonnencreme ein und ermahnte ihn lautstark:
„Michael, schwimm nicht zu weit raus! Und du, Emma, pass auf, dass er keinen Sonnenbrand bekommt!“
Emma, die sich mühsam ein Lächeln abrang, fühlte sich überflüssig.
Am Abend träumte sie von einem romantischen Abendessen, aber Mary verkündete freudig:
„Ich habe schon einen Tisch reserviert! Für drei Personen, am Fenster. Dort gibt es ausgezeichneten Fisch, so wie ich ihn zu Hause zubereite.“
Michael lächelte nur:
„Mama, du hast an alles gedacht, danke.“
Emma schwieg.
Am dritten Tag entschloss sie sich zu einem Gespräch:
„Vielleicht könnt ihr euch heute ausruhen, und wir gehen zu zweit essen?“
Mary hob überrascht die Augenbrauen:
„Warum ohne mich? Wir sind doch eine Familie! Ich störe doch nicht.“
Michael senkte verlegen den Blick:
„Lass sie doch mitkommen, Mama möchte auch Zeit mit uns verbringen.“
Beim Abendessen plauderte Mary ununterbrochen, erzählte dem Kellner, wie sie „alles unter Kontrolle hat“, und gab Tipps, welche Gerichte man bestellen sollte. Emma saß mit einem gezwungenen Lächeln da und spürte, wie ihre Verärgerung in Müdigkeit umschlug.
Am vierten Morgen wachte sie früher als gewöhnlich auf und traf Mary auf ihrem Balkon an – in ihrem Bademantel, mit einer Tasse Kaffee.
„Was für ein wunderbarer Morgen!“, sagte ihre Schwiegermutter fröhlich. „Warum schlafen Sie so lange? Die Jugend ist heute ganz schön entspannt.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte Emma bereits begriffen: Der Urlaub war zu einer Tortur geworden. Die Romantik war verschwunden, zurück blieben nur Unbehagen und mütterliche Ratschläge.
Und am sechsten Tag passierte etwas, das Emma endgültig aus der Fassung brachte. Sie hatte ihr Lieblingskleid herausgesucht, um ein Foto mit ihrem Mann zu machen. Als sie aus dem Badezimmer kam, sah sie Mary vor dem Spiegel – in genau diesem Kleid.
„Ich dachte, dir wäre darin zu warm“, sagte sie mit einem unschuldigen Lächeln. „Aber mir passt es perfekt.“
Emma brachte kein Wort heraus. Michael lachte nur:
„Mama, es steht dir wirklich gut.“
An diesem Abend saß Emma allein am Strand. Sie hatte das Gefühl, dass diese Flitterwochen nicht nur ihre Geduld, sondern auch ihre Ehe auf die Probe stellten. Michael sah darin nichts Ungewöhnliches.
„Was soll ich denn machen?“, sagte er mit einem Achselzucken. „Mama ist allein, sie soll sich doch freuen.“
Der Morgen des siebten Tages begann beunruhigend. Am Strand war es still, und Mary war nirgends zu sehen. Nur ihr Hut, Spuren im Sand und eine Tasse mit kaltem Kaffee waren übrig geblieben.
Emma rannte zum Ufer. Die Spuren führten zum Wasser und verloren sich in der Brandung. Der Wind verwischte sie schnell im Sand.
„Michael!“, rief sie. „Wo ist deine Mutter?“
Michael kam angelaufen und war blass geworden. Einige Sekunden lang konnte er kein Wort herausbringen. Dann begann er, den Strand abzusuchen, Leute zu befragen und Rettungskräfte zu rufen. Niemand hatte gesehen, wohin Mary gegangen war. Auf den Aufzeichnungen der Kameras war zu sehen, wie sie am Strand entlangging … und dann hinter einer Kurve verschwand.
Der Abend zog sich quälend lang hin. Emma saß auf dem Balkon und schaute aufs Meer, während Michael im Zimmer auf und ab lief und die Polizei und das Hotelpersonal anrief. Irgendwann ließ er sich einfach auf das Bett fallen und flüsterte:
„Es ist meine Schuld. Ich hätte sie nicht mitnehmen sollen.“
Emma wollte etwas Tröstendes sagen, aber sie verspürte eine seltsame Mischung aus Angst und Erleichterung. Und sie schämte sich für dieses Gefühl.
Am nächsten Morgen teilte man ihnen mit:
„Ihre Mutter wurde gefunden.“
Michael wurde blass.
„Wo?“
„Am Nachbarstrand, fünf Kilometer von hier entfernt. Sie saß in einem Café und aß Eis. Sie sagte, sie habe einfach beschlossen, ein wenig spazieren zu gehen.“
Als sie ankamen, empfing Mary sie mit einem Lächeln:
„Oh, warum seid ihr so blass? Ich bin nur spazieren gegangen, um frische Luft zu schnappen. Die Wellen dort sind so schön …“
„Wir dachten, Sie wären ertrunken!“, rief Emma.
„Meine Güte, sind Sie nervös“, seufzte Mary. „Deshalb bin ich mit Ihnen gefahren – um alles unter Kontrolle zu haben. Ohne mich würden Sie verrückt werden.“
Michael stand schweigend da und sagte dann mit fester Stimme:
„Mama, du kommst nach Hause zurück.“
Mary erstarrte.
„Was? Du bist verrückt! Ich habe gerade erst angefangen, mich zu erholen!“
Aber Michael zögerte nicht. Er kaufte ihr ein Ticket für den nächsten Flug. Emma sah zum ersten Mal seine Entschlossenheit.
Zum Abschied sagte Mary kühl:
„Na gut. Machen Sie Urlaub, wie Sie wollen. Mal sehen, wie es Ihnen ohne mich geht.“
Als das Flugzeug abhob, fühlte Emma zum ersten Mal seit langem eine Leichtigkeit. Am Strand kehrte Stille ein. Sie waren zu zweit.
Am Abend, als sie den Sonnenuntergang betrachteten, sagte Emma leise:
„Ich dachte, diese Flitterwochen würden alles zerstören. Aber vielleicht war es genau das Gegenteil – sie haben uns gezeigt, wer wir wirklich sind.“
Michael drückte ihre Hand.
„Manchmal muss man so etwas durchmachen, um zu verstehen, was wirklich wichtig ist.“
Das Meer rauschte leise, der Mond stieg über den Horizont, und Emma spürte: Vielleicht beginnt ihr wirkliches Leben gerade erst. Ohne Ratschläge, ohne einen dritten Platz zwischen ihnen. Nur sie beide.

