Wenn der Wind von den Hügeln den Duft von nassem Gras und Nadeln herüberwehte, ging Maria oft zum Fluss – dorthin, wo das Wasser ruhig floss und man über alles Mögliche nachdenken konnte. Nach dem Tod ihres Mannes war dies zu ihrer Gewohnheit geworden: Jeden Abend ging sie zum Ufer hinunter, setzte sich auf einen alten Baumstamm und lauschte einfach dem Rauschen des Wassers.
An diesem Abend war alles wie immer. Der Fluss glitzerte im Sonnenuntergang, Libellen zirpten über dem Schilf, und Maria wollte gerade gehen, als etwas zwischen den Wellen aufblitzte. Ein kleiner Wollknäuel wurde von der Strömung herumgewirbelt. Zuerst dachte sie, es sei nur Müll oder ein weggeworfenes Spielzeug, aber dann hörte sie ein leises Quietschen.
„Mein Gott … es lebt!“, flüsterte sie und stieg ohne zu zögern ins kalte Wasser.
Sie zog das winzige Tier heraus – zitternd, nass und mit Schlamm verschmiert. Es sah aus wie eine kleine Otter, hatte aber eine seltsame Form, einen kurzen Schwanz und große, kluge Augen. Um seinen Hals hing ein winziges Lederband mit einem Metallmedaillon daran.
Maria brachte ihren Fund nach Hause, wickelte ihn in ein Handtuch, stellte eine Schüssel mit Milch daneben und beobachtete die ganze Nacht, wie er zu sich kam. Am Morgen versuchte das Tierchen bereits, auf seinen kurzen Beinen durch den Raum zu laufen, wobei es komisch hin und her wankte.
„Was bist du doch für ein Wunderwesen …“, sagte Maria leise. „Wir nennen dich Rick.“
Sie nahm vorsichtig das Band ab und bemerkte, dass sich das Medaillon öffnen ließ. Darin befand sich eine winzige Metallkapsel, in der ein zu einer kleinen Rolle zusammengefalteter Zettel lag.
Darauf standen Worte, geschrieben in feiner, ordentlicher Handschrift:
„Wenn Sie dieses Tier gefunden haben – es trägt einen Beweis bei sich. Werfen Sie es nicht weg. Übergeben Sie es nicht den Behörden. Man wird es abholen kommen.“
Maria saß lange da und konnte nicht verstehen, was das bedeutete.
Welchen „Beweis“ könnte das Tier bei sich tragen? Und wer sollte es abholen kommen?
Sie versuchte, es genauer zu betrachten, und bemerkte eine seltsame Besonderheit – an Ricks Seite schimmerte im Licht der Lampe eine winzige Naht, als wäre die Haut einmal aufgeschnitten und dann sorgfältig wieder vernäht worden. Maria hielt es nicht aus, holte eine Lupe und erstarrte: Unter der dünnen Fellschicht war eine glänzende Metallplatte zu sehen.
„Das ist nicht nur ein Tierchen …“, flüsterte sie.
Nach ein paar Tagen war Rick ganz zahm geworden. Er folgte Maria durch das Haus, fraß aus ihrer Hand, und immer öfter hatte sie das Gefühl, dass er ihre Worte zu verstehen schien. Manchmal versuchte er sogar, mit seiner Pfote auf das Medaillon zu „zeigen“, als wolle er sie an etwas Wichtiges erinnern.
Und dann ging es los.
Zuerst kam der Postbote zu ihr und teilte ihr mit, dass ein seltsames Paket ohne Absenderadresse für sie angekommen sei. Darin befanden sich ein USB-Stick und eine Notiz:
„Bald werden Sie die Wahrheit erfahren. Aber seien Sie vorsichtig. Rick ist nicht nur ein Tier.“
Maria schloss den USB-Stick an ihren Laptop an. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Ordner mit Dutzenden von Dateien. Darunter befand sich auch ein Video. Sie klickte auf „Abspielen“.
Auf der Aufnahme war ein Labor zu sehen. Menschen in weißen Kitteln standen um einen Tisch herum, auf dem kleine Käfige standen. In einem davon befand sich ein Tier, das genau wie Rick aussah. Eine Stimme aus dem Off sagte:
„Experiment Nr. 17. Der Datenträger ist bereit. Die Informationen sind im Gewebe des Organismus verschlüsselt. Der Code kann ohne lebendes Exemplar nicht extrahiert werden.“
Maria wich vom Bildschirm zurück.
Heißt das, dass dieses kleine Tierchen ein lebender Informationsspeicher ist? Aber wessen Informationen? Und warum wurde es in den Fluss geworfen?
In derselben Nacht klopfte jemand an ihre Tür.
Drei kurze Schläge. Pause. Noch einer.
Maria erstarrte. Im Fenster blitzten die Scheinwerfer eines Autos auf. Sie schaltete das Licht aus und drückte Rick an ihre Brust. Das Tierchen piepste leise, als würde es ebenfalls die Gefahr spüren.
„Pssst…“, flüsterte sie. „Keine Angst.“
Hinter der Tür waren Schritte zu hören und eine dumpfe Männerstimme:
„Frau Wolkow? Wir sind vom Forschungszentrum. Sie haben ein Objekt in Ihrem Besitz, das dem Staat gehört. Wir bitten Sie, es zurückzugeben.“
Marias Herz schlug schneller. Sie ging zum Fenster und sah zwei Männer in identischen dunklen Jacken. Der eine hielt ein Funkgerät, der andere einen Koffer.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Auf der einen Seite war da die Angst. Auf der anderen Seite sagte ihr etwas, dass sie Rika nicht herausgeben durfte.
Am nächsten Morgen stieg Maria in den Bus und fuhr in die Nachbarstadt. Sie wusste nur eines: Wenn diese Leute ihr Haus gefunden hatten, würden sie nicht aufgeben.
Sie versteckte das Tier in einer alten Schachtel und machte sich auf den Weg zu einem alten Bekannten, dem Biologen Sergej, mit dem sie einst an der Universität studiert hatte.
Sergei sah Rick lange an, dann stellte er ihn schweigend unter die Lampe.
„Verstehst du, dass das …“, sagte er schließlich. „Das ist kein Tier. Das ist ein bioinformatischer Datenträger. In seiner DNA sind Daten gespeichert. Allem Anschein nach handelt es sich um ein staatliches Experiment. Wenn das, was auf dem USB-Stick steht, wahr ist, könnte er Informationen enthalten, die jemanden das Leben gekostet haben.“
Maria sah das winzige Wesen an, das vertrauensvoll auf ihrer Handfläche schlief.
„Und was jetzt?“, fragte sie.
Sergei seufzte.
„Jetzt werden sie dich suchen. Und wenn du dich und ihn retten willst, musst du verschwinden.“
Maria nickte. Sie hatte sich bereits entschieden.
Zwei Tage später verließ sie die Stadt. Überwachungskameras hatten sie am Bahnhof erfasst, aber dann verlor sich ihre Spur.
Eine Woche später erschien in der Presse eine kurze Meldung:
„Unbekannte Frau rettet Versuchstier, das verschlüsselte Daten speichern kann. Der Aufenthaltsort beider ist unbekannt.“
Niemand sah Maria oder den kleinen Rick jemals wieder.
Aber es wurde gemunkelt, dass man irgendwo in den Bergen, in einem alten Haus, abends eine Frau sehen könne, die mit einem kleinen Tier in den Armen am Fenster sitze.
Und in ihren Augen liege Ruhe.
Als wisse sie ein Geheimnis, von dem die Welt besser nichts erfahren sollte.

